FACHKRÄFTE
Intervention bei sexuellen Grenzverletzungen in einer Jugendgruppe
Fallbeispiel aus dem Beratungsalltag von Zartbitter Köln
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Beratungsanlass
In einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe von 13- bis 14-jährigen Jugendlichen wurden wiederholt sexuelle Grenzverletzungen/Übergriffe durch mehrere männliche Jugendliche bekannt. Zeitnah zur Aufdeckung der sexualisierten Gewalt war eine Skifreizeit geplant. Im pädagogischen Fachteam bestanden Unsicherheiten, unter welchen Voraussetzungen die Skifreizeit durchgeführt werden konnte: Ob zum Beispiel einzelne Jugendliche von der Freizeit zum Schutze der betroffenen Mädchen und Jungen von der Freizeit ausgeschlossen werden mussten. Das Team bat Zartbitter um Fachberatung und Vorbereitung der Skifreizeit mit der Jugendgruppe.
Erstgespräch mit den pädagogischen Fachkräften
Im Rahmen einer ersten Fachberatung der Pädagoginnen und Pädagogen wurden zunächst die bekannten Fakten zusammengetragen. Bereits in diesem Gespräch wurde deutlich, dass es im Team in den letzten zwei Jahren wiederholten Personalwechsel gegeben hatte. Ganz offensichtlich war es bereits zuvor zu (sexualisierten) Übergriffen gekommen, für deren Klärung inzwischen ausgeschiedene Fachkräfte jedoch nicht die Verantwortung übernommen hatten. Sie hatten es seinerzeit den zwölfjährigen Kindern überlassen, „die Konflikte untereinander zu klären“. Dies führte zu einer Schutz- und Orientierungslosigkeit innerhalb der Gruppe, so dass einzelne grenzverletzende Jungen eine Machtposition aufbauen konnten. Aufgrund neuer Gruppenmitglieder war die Gruppendynamik in den letzten Monaten zudem noch konfliktträchtiger geworden.
Nachdem eine neue Kollegin in der Gruppe tätig wurde, vertrauten die Mädchen sich ihr erneut an. Die junge Kollegin war für die Mädchen vertrauenswürdig, denn sie legte im pädagogischen Alltag sehr viel Wert auf die Achtung persönlicher Grenzen. Aufgrund ihres konsequenten Auftretens hatte die neue Pädagogin jedoch bei einigen Jungen in der Gruppe keinen leichten Stand: Sie versuchten, die junge Kollegin zu mobben. Einzelne dieser Jungen waren aufgrund ihrer familiären Situation psychisch belastet. Zugleich wurde auch deutlich, dass sie zu einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen eine gute Beziehung hatten. Auch waren die Fachkräfte mit den Eltern im Gespräch.
Zartbitter führte nach dem Erstgespräch mit den pädagogischen Fachkräften ebenso ein Gespräch mit dem Leiter der Einrichtung, der sich der Problematik bewusst war und aktiv Stellung bezog. Er engagierte sich entsprechend seiner begrenzten zeitlichen Möglichkeiten regelmäßig in der pädagogischen Arbeit in dieser Gruppe. Zudem war er der verantwortliche Leiter der geplanten Skifreizeit. Er erklärte, dass er gerne die gesamte Gruppe mit auf die Freizeit nehmen wolle, aber im Falle von Grenzverletzungen konsequent Jugendliche nach Hause schicken werde.
Mit den pädagogischen Fachkräften und dem Leiter der Einrichtung wurde verabredet, dass „Sichere Orte schaffen“ in Workshops für Mädchen und Jungen zu dem Recht von allen Jugendlichen auf Achtung ihrer persönlichen Grenzen arbeitet und mit ihnen gemeinsam Regeln für einen grenzachtenden Umgang aufstellt. Zudem sollte Zartbitter eine erste Einschätzung geben, ob einzelne Jugendliche von der Fahrt ausgeschlossen werden oder alle mitfahren sollten.
Geschlechtsspezifische Interventions-Workshops
Zartbitter entschied sich für die Durchführung von getrennten Mädchen- und Jungen-Workshops, da die Erfahrung es lehrt, dass in gemischtgeschlechtlichen Gruppen sexualisierte Gewalt durch andere Gruppenmitglieder fast nie oder wenn nur zum Bruchteil benannt wird. Auch Jungen reden im geschlechtsspezifischen Workshop offener über sexuelle Grenzverletzungen durch andere Jungen und durch Mädchen: Bei Anwesenheit von Mädchen scheuen sie den „Verrat“ von Geschlechtsgenossen.
Mädchen-Workshop
Zwei Beraterinnen von Zartbitter boten einen zweistündigen Workshop für die Mädchen der Gruppe in den Räumen von Zartbitter an, an dem alle Mädchen der Gruppe teilnahmen. Zu Beginn erklärten sie den Jugendlichen ihr Anliegen: Die Gruppe darin zu unterstützen, dass alle die Chance haben, sich auf der Skifreizeit wohlzufühlen. Dies setze die Achtung persönlicher Grenzen voraus. Sie gaben den Mädchen die Zusicherung, dass sie diese nicht nach Grenzverletzungen innerhalb der Gruppe ausfragen (Merke: Niemals mehrere Kinder und Jugendliche gemeinsam befragen!). Sie möchten allgemein über sexuelle, körperliche und psychische Grenzverletzungen sprechen sowie Rechte und Regeln für die Skifreizeit aufstellen.
Den Mädchen wurden nun die Plakate Zeltlager Tag und Zeltlager Nacht gezeigt. Sie bildeten mit Mädchen ihrer Wahl Kleingruppen und bearbeiteten die Fragestellung: Welche der auf den Plakaten dargestellten Szenen bewertet ihr als positiv, welche als negativ. Die Szenen wurden mit zwei unterschiedlichen Farben markiert.
In den Kleingruppen entstanden intensive Gespräche. Die Mädchen teilten eigene Erfahrungen und stellten Bezüge zur eigenen Gruppensituation her. Sehr differenziert tauschten sie sich auch über die Situation einzelner Jungen der Gruppe aus: Einige verhielten sich (sexuell) übergriffig – auch gegen andere Jungen –, andere neutral und wiederum andere seien so mutig, offen gegenüber den Übergriffen Stellung zu beziehen. Einige der mutigen Jungen hätten dennoch ein hohes Ansehen unter den Jungen.
Bei der Auswertung der Kleingruppenarbeit hielten sich die Beraterinnen an ihre Zusage und stellten keine „bohrenden Fragen“. In dieser Phase der Gruppenarbeit formulierten die Mädchen auch ihre Enttäuschung darüber, dass die ehemaligen Pädagoginnen und Pädagogen sie im Stich gelassen und in Fällen von Grenzverletzungen innerhalb der Gruppe nicht aktiv zum Schutze der Betroffenen eingegriffen hatten. Ohne Namen zu nennen, bewerteten sie es als unfair, dass einzelne Jungen die neue junge Pädagogin zu mobben versuchten. Nach einem intensiven Austausch, waren sie sich einig, dass auch die grenzverletzenden Jungen nochmals eine Chance bekommen, da sie sich „eigentlich“ als Gruppe gut verstehen. Der Wunsch der Mädchen war es, dass alle mit auf die Skifreizeit dürfen.
In einer nächsten Arbeitseinheit stellten die jugendlichen Mädchen Rechte und Regeln zur die Achtung persönlicher Grenzen auf der Skifreizeit auf. Unterschiedliche Interessen wurden diskutiert – zum Beispiel, ob und wie lange man sich gegenseitig in den Schlafräumen besuchen darf.
Trotz unterschiedlicher Meinungen zu einzelnen Regeln verabredeten die Mädchen, sich an diese zu halten und untereinander solidarisch zu sein. Die Jugendlichen entwickelten die Idee, den Jungen zunächst nichts über den Verlauf und die Ergebnisse des Workshops zu sagen. Diese sollten bereits vor der Skifreizeit merken, wie sehr die Mädchen zusammenhalten.
Jungen-Workshop
Der Jungen-Workshop wurde von einem männlichen Berater und einer der beiden Beraterinnen angeboten, die zuvor im Mädchen-Workshop mitgearbeitet hatte. Während dem männlichen Berater insbesondere die Moderation von jungenrelevanten Themen oblag, war es die vorrangige Aufgabe der Beraterin, durch Impulse sicherzustellen, dass von den Mädchen benannte Aspekte der Gruppendynamik auch im Jungen-Workshop reflektiert wurden.
Die Mitarbeit einiger Jungen war erwartungsgemäß zunächst verhalten. Andere Jungen arbeiteten von Anfang an intensiv mit. Ein Junge, dessen grenzverletzendes Verhalten sowohl von den Mädchen als auch von Jungen wiederholt benannt wurde, kam deutlich verspätet erst kurz vor Ende des Workshops.
Nachdem die Jungen zu Beginn des Workshops ihre Verwunderung darüber artikulierten, dass die Mädchen ihnen keinerlei Information über deren Workshop gegeben hatten, bewerteten auch sie in Kleingruppen ihrer Wahl die Situationen auf den Plakaten Zeltlager Tag und Zeltlager Nacht. Einige Jungen klinkten sich aus, bewerteten die Aufgabe als kindisch. Die meisten arbeiteten intensiv mit. Ihre inhaltlichen Aussagen zu den Plakaten und die in einer späteren Arbeitsphase gemachten Aussagen zur Gruppendynamik und angemessenen Rechten und Regeln waren mit denen der Mädchen weitestgehend deckungsgleich.
Im Laufe des Workshops traten zunehmend Jungen in den Vordergrund der Diskussion, die sich zunächst rückhaltend verhalten hatten. Sehr klar forderten sie einen grenzachtenden Umgang untereinander und formulierten ebenso wie die Mädchen zuvor ihr Anliegen, dass alle mit auf die Klassenfahrt dürfen. Es wurde sehr deutlich, dass sie bereit waren ihren Teil der Verantwortung für eine harmonische Skifreizeit zu übernehmen. Zugleich vertrauten sie darauf, dass die Pädagogen aktiv für den Schutz von einzelnen eintreten und Konsequenzen ziehen – sollte es zu Grenzverletzungen kommen. Sie hatten erkannt, dass Hilfe holen kein Verrat ist.
Verpflichtungserklärung und Feedback
In Auswertung der Workshops sprach sich Zartbitter für eine Teilnahme von allen Jugendlichen an der Skifreizeit aus. In den Workshops war deutlich geworden, dass u. a. durch eine unklare Haltung und nicht ausreichende pädagogische Interventionen ehemaliger Pädagogen es zu einer Vernachlässigung grenzachtender Gruppennormen gekommen war. Es war davon auszugehen, dass das aktuelle Pädagogenteam dies erkannt hatte. Zudem war der überwiegende Teil der Jugendlichen mutig und kompetent, um in Zukunft Verantwortung für einen grenzachtenden Umgang untereinander zu nehmen bzw. im Falle von grenzverletzendem Verhalten einzelner Gruppenmitglieder Pädagoginnen und Pädagogen um Unterstützung zu bitten.
Entsprechend der Absprache mit den Jugendlichen erarbeitete Zartbitter für die Skifreizeit eine Verpflichtungserklärung zur Achtung der Rechte von anderen und einen Feedbackbogen. Die Verpflichtungserklärung mussten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Freizeit unterschreiben.
Als Ausdruck der Wertschätzung für die Jugendlichen, ließ Zartbitter das Material illustrieren.
Link zum „Skifreizeit Anschreiben Jugendliche“
Link zur „Verpflichtungserklärung Skifreizeit“
Link zum „Feedbackbogen Skifreizeit“
Die Skifreizeit wurde ein Erfolg. Nach Auskunft der jugendlichen Mädchen und Jungen fühlten diese sich wohl, ihre persönlichen Grenzen seien geachtet worden. Den Feedbackbogen nutzten einzelne als Instrument des Beschwerdemanagement: Sie kritisieren das Verhalten von Erwachsenen.